Ensemblegeschichte
extended voice
1977–1985

Die Maulwerker gründeten sich Ende 1977 in Berlin. Ein Jahr zuvor war Dieter Schnebel als Professor an die damalige Hochschule der Künste (heute UdK) berufen worden. Im Maler, Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer, dem Professor für Bühnenbild, fand er einen künstlerischen Verbündeten. Gemeinsam wagten sie die Interdisziplinarität, die an der damals neu gegründeten, aus verschiedenen Hochschulen zusammengeschlossenen HdK so propagiert wurde: Schnebel erarbeitete mit den Studierenden seiner Klassen für experimentelle Musik und experimentelles Musiktheater eine neue Version der erst drei Jahre vorher in Donaueschingen als sinfonische Fassung gezeigten Maulwerke, Achim Freyer inszenierte nun diese erste szenische Fassung des Stücks. Die Ausführenden – Martin Bachmann, Helmut Danninger, Thomas Dreißigacker, Anna Christine von Gablenz, Peter Hebeisen, Christian Koch, Eva Loschky, Claudia Meili, Katarina Rasinski (seit 1978), Anette Schulz, Brigitte Stockmann und Peter Treu – gaben sich den Namen „Die Maulwerker“. In den Folgejahren gab es umjubelte Aufführungen in ganz Europa. Die szenische Version bekam 1979 den Karl-Hofer-Preis.

1980 kam es zur zweiten Produktion des Teams Schnebel/Freyer: Körper-Sprache, Schnebels „Organkomposition“ – eine stumme Musik nur für Körperbewegungen (Uraufführung in Metz, weitere Aufführungen in ganz Europa, Tokyo und Seoul). Die Ausführenden waren Studierende und Dozent*innen der HdK: Horst Birr, Helmut Danninger, Thomas Dreißigacker, Beate Jorek, Katarina Rasinski, Gabi Sailer, Satjam und Martin Schmitz.

1985–1995

In Schnebels Klassen waren auch immer „gasthörende“ Komponist*innen, Vokalist*innen, Performer*innen, Schauspieler*innen der freien Westberliner Szene. Michael Hirsch zum Beispiel war nie regulärer Student der HdK. Schnebel und Hirsch kannten sich schon aus München, wo Michael als 16jähriger in Schnebels AG Neue Musik mitwirkte.

Um 1985 kam es zu einer neuen Phase – Schnebel entwickelte eine konzertante Trio-Version der Maulwerke mit Imke Buchholz, Michael Hirsch und Jürgen Marquardt, die auch eine Trioversion der Körper-Sprache spielten. Für die Uraufführung von Schnebels Zyklus Laut-Gesten-Laute stieß die Schweizer Sängerin Beatrice Mathez-Wüthrich dazu. Es folgten Einladungen nach Hamburg, Zagreb, Belgrad, Thessaloniki, Athen, Madrid.


Fluxus 1989: Christian Kesten, Henrik Kairies, Dieter Schnebel performen Patterson, Chiari, Riley

Zwischen 1988 und 1993 formierten sich die Maulwerker in einer festen Besetzung mit neun Ensemblemitgliedern. Eine Kerngruppe mit Anna Clementi, Christian Kesten, Gisburg Smialek tourte in dieser Zeit mit Schnebels Trioversion der Maulwerke, Soli und Duos aus Laut-Gesten-Laute sowie – um Michael Hirsch zum Quartett erweitert – mit Zeichen-Sprache um die Welt und feierte internationale Erfolge (Festival East-West Horizons II in Tokyo 1988, Hebbel-Theater Berlin 1989, Experimental Intermedia New York 1992, Room Dances Festival Jerusalem/Tel Aviv 1992, Bordeaux und Paris 1993 u.v.a.).

Das große Ensemble mit Anna Clementi, Michael Hirsch, Ariane Jessulat, Henrik Kairies, Christian Kesten, Katarina Rasinski, Barbara Thun, Tilmann Walzer und Steffi Weismann war bei Schnebels Entwicklung der Zyklen Museumsstücke (1993) und Schau-Stücke (1995/99) beteiligt, wie auch an MoMA (1995) und NN (2001).

Ensemble 1995: Kairies, Walzer, Hirsch, Clementi, Kesten, Weismann, Thun, Jessulat, Rasinski

1995–2001

Gleichzeitig begannen die Maulwerker um 1995 mit einer eigenständigen Arbeitsweise und lösten sich von der Hochschule der Künste und allmählich auch von der Leitung Schnebels. Nach der ersten autonom und kollektiv entwickelten, szenischen Maulwerke-Version 1995 (für 6-9 Stimmen, Bühne und Kostüme: Jürgen Westhoff) folgte noch im selben Jahr die Kollektivkomposition schramme am himmel für fünf Stimmen, auf Lautgedichte von Velimir Chlebnikov, die 1997 auf sieben Stimmen erweitert und 2003 für RADIOkultur als radiophone Fassung realisiert wurde.

Nach langjährigem Studium und Praktizieren der Obertongesangtechnik präsentierten die Maulwerker 1995 in Berlin ihre auf der teils indeterminierten Urfassung basierende Version von Stockhausens Stimmung.

In diesen Jahren entstehen abendfüllende Raum-Kompositionen wie parochial von Christian Kesten (1998) und Musiktheaterprojekte wie dklm 5+1 (2000) von Barbara Thun, kollektive Kompositionen wie Sextett (1998) oder Eintausend Engel über All (NDR 1999).

Auf Basis des Schnebelschen Konzepts Glossolalie von 1959 entwickeln die Maulwerker eine Ensemblekomposition, die als szenische Version glossolalie 2000 (bzw. 2001) unter der Regie von Anna Clementi (Bühne & Kostüme: Dorothee Scheiffarth) in der Akademie der Künste Berlin im Jahr 2000 realisiert und 2001 zu den KLANG-AKTIONEN nach München eingeladen wurde.

Aus der Begegnung mit dem Fluxuskünstler Emmett Williams bei einem gemeinsamen Fluxuskonzert im Museum Hamburger Bahnhof 1999 entwickelte sich eine Freundschaft und Zusammenarbeit. Es folgten Fluxuskonzerte in namhaften Museen wie dem Fridericianum Kassel, Reina Sofía Madrid, Museo Vostell Malpartida, MUMOK Wien, Weserburg Museum für Moderne Kunst, Museum Morsbroich Leverkusen sowie bei der Fluxus Biennial in Rom.

Weitere Konzertreisen gingen nach Luxemburg, Genf, Moskau, Glasgow, Bratislava, Sofia, Skopje, Brno, sowie in viele deutsche Städte, zu Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen, dem Rheingau-Musikfestival oder der MusikTriennale Köln. Es gab Kollaborationen mit den Ensembles KNM, Ensemble Modern, ensemble mosaik (Franco Evangelisti: Die Schachtel) und Komponisten wie Vinko Globokar (Musik-Biennale Berlin) oder Nicola Sani (Deutschlandradio).

Auf Einladung des Musiktheaterdramaturgen Roland Quitt realisierten die Maulwerker 2001 eine vollständige Version der Song Books von John Cage am Theater Bielefeld. Dies nahm einen Strang auf, der schon zu Schnebels zentraler Arbeit an der HdK zählte: Cages Song Books gehörten seit den 80er Jahren zum regelmäßigen Tourprogramm der Maulwerker, mit einer legendären Aufführung 1993 beim Festival USArts in Berlin und in der Kombination mit Cages Concert for Piano and Orchestra als Concert for Voices and Piano [and Instruments] in Berlin (1995), Glasgow (1996) und Bratislava (1997). 2012 wurde dieser Faden durch eine gemeinsame Song Books-Aufführung mit Joan LaBarbara und ihrem Ensemble ne(x)tworks bei der Berliner MaerzMusik wieder aufgenommen.

2001–2010

Von 2001-2005 folgten Jahre der Neuorientierung, die zu einer Festigung der Gruppe in der aktuellen Besetzung führte. Die einzelnen Ensemblemitglieder begannen sich stärker auf ihre kompositorische Arbeit zu konzentrieren. 2002 gaben die Maulwerker ein Konzert ausschließlich mit Kompositionen Michael Hirschs. 2002/2003 entstand die Ensemblekomposition Voyage puré. Zudem pflegen sie seitdem einen regen Austausch mit Komponist*innen der eigenen Generation – Antonia Baehr, Alessandro Bosetti, Sabine Ercklentz, Jürg Frey, David Helbich, Georg Klein, Antje Vowinckel u.v.a.: 2001 entsteht Andrea Neumanns Musiktheater auch nicht eigentlich mehr oder vielleicht sogar gar nicht für 7 Schwebende am Theater am Halleschen Ufer, 2006 Makiko Nishikazes M.M. beim Festival MaerzMusik Berlin.

Daneben gab es Konzertreisen nach Madrid, Rom, Klagenfurt, Basel, Luzern, zu den Schweizer Festivals „Moments Musicaux“ in Aarau und „Les Amplitudes“ in La Chaux-de-Fonds, ans MUMOK Wien, ans ZKM Karlsruhe und viele weitere deutsche Städte. 2004 realisierten die Maulwerker Rolf Julius’ Songbook 1-6 beim Klangkunst-Festival „RaumKlang–KlangRaum“ Köln. Es gab weitere Kollaborationen mit dem Ensemble KNM und dem Ensemble Modern, Radioproduktionen mit Frank Corcoran (Deutschlandradio) und Beate Andres (SWR), Musiktheater von Cong Su und Chen Shi-zheng.


Ensemble 2010 v.l. Rasinski, Hirsch, Weismann, Jessulat, Kairies, Kesten

Christian Kesten konzipierte ab 2005 die thematische Konzertreihe maulwerker performing music, die mit zahlreichen Uraufführungen den Fokus auf jeweils einen Aspekt der Performativität von Musik konzeptuell untersucht und damit die zentralen Themen der Arbeit der Maulwerker behandelt. Mit poeme für füße waren dies Körperkompositionen, mit translationen Sprachkompositionen, mit Halt’s Maul Schreikompositionen, XXXOOOXXX (numbers & circles) präsentierte formale Kompositionen, pro cedere Prozess-Stücke, Situationen die Form und den Rahmen des klassischen Konzerts erweiternde konzeptuelle, situative Stücke und in speakers interagierten die Stimmen durch Zuspiele oder Live-Prozesse mit Lautsprechern. Steffi Weismann gestaltete die Abende in Bezug auf die räumliche, visuelle und technische Realisierung mit.

Die Interpretation von Fluxus-Partituren blieb weiterhin ein wichtiges Arbeitsfeld der Maulwerker. Nach den Konzerten mit Emmett Williams bis zu dessen Tod 2007, kam es 2008 zu einer Zusammenarbeit mit Alison Knowles (BONE Festival Bern).

Die freundschaftliche Verbundenheit mit Dieter Schnebel blieb über die Jahre bestehen und wurde gelegentlich durch die Zusammenarbeit an neuen Kompositionen intensiviert. Schnebel schrieb kammermusikalische Stücke für Stimme und Körper einigen Ensemblemitgliedern auf den Leib: Drei Kafka-Dramolette (2008, Christian Kesten und Katarina Rasinski), Stumme Schreie (2008, Katarina Rasinski) und Liebe-Leid (2013-2015, Ariane Jessulat).

Durch die Aufführung von Schnebels Glossolalie 61 beim Festival Ultraschall 2010 im Radialsystem V Berlin und die Neufassung der Maulwerke (2010), die in Susanne Elgetis filmischer Version auf DVD (Wergo) veröffentlicht wurde, setzte das Ensemble Maßstäbe auf hohem Niveau.

2011–2017

Nach der Prägung durch Cage, Schnebel und Fluxus in den Anfangsjahren, zeigt sich in der Arbeit des Ensembles über die Jahre eine entschiedene Ausdifferenzierung. So scheinbar divergente Felder wie Sprach- und Körperkompositionen, Vokalmusik mit erweiterten Techniken und Formen komponierten Theaters werden aus einem integrativen musikalischen Impuls heraus erarbeitet: Sprache schlägt in Gesang um, Bewegungen und Stillen werden mit dem Körper gesungen, Klang wird zu körperlicher Musik – wobei der künstlerische Spielraum darin liegt, immer wieder neue Aspekte dessen, was Musik sein kann (und muss), aus den Zwischenbereichen zu erschließen. Eine derart entropische oder dezentrale Erschließung verschiedenster musikalischer und theatraler Ebenen bedingt die Arbeitsweisen und das Selbstverständnis der Composer-Performer als einer Gruppe, deren kreative Strukturen und Aufgaben je nach musikalischer Situation neue Konstellationen bilden.

Crossing the Punchline 2012: vl. Kesten, Jessulat, Weismann, Kairies

Auf Einladung von DE PLAYER entwickelten die Maulwerker 2012 die neue Ensemblekomposition Crossing the Punchline im Witte de With Center for Contemporary Art, im Rahmen der Operadagen Rotterdam. War die abendfüllende Uraufführung noch durch die Re-Komposition bestehender Eigenkompositionen und die Schichtung mit neuem Material gekennzeichnet, wurde im Jahr darauf ein 15minütiges Konzentrat beim Festival pyramidale in Berlin gezeigt: der Abend „Tischgesellschaft“ präsentierte szenische Kompositionen an einem Tisch, mit Uraufführungen von Alexandra Filonenko, Henrik Kairies und Christopher Williams.

2013 entstand auch Makiko Nishikazes ppt, das erweiterte Vokaltechniken mit performativen Aktionen verbindet, eine Raumkomposition für die Elisabethkirche Berlin.

In Sachen Fluxus kam es 2012 und 2014 zu gemeinsamen Konzerten mit Benjamin Patterson (ZKM Karlsruhe und AckerStadtPalast Berlin). 2014 lud zudem das BONE Festival die Maulwerker zu Fluxus-Realisationen nach Bern ein.

Konzertreisen führten die Maulwerker nach Magdeburg und Mexiko (2015), nach Graz und Bolivien (2016), letztere ermöglicht durch das Goethe-Institut. Es entstanden Radioproduktionen bei SWR und HR mit Iris Drögekamp (2013 und 2014) und Alessandro Bosetti (2015).

Auf dem Kontinuum zwischen Sprach- und Vokalkomposition, zwischen Sprechen und Gesang, liegen die – beide in ihrer individuellen Handschrift sehr unterschiedlichen – Uraufführungen von Alessandro Bosetti Trinitaire (2015) und Sam Ashley Love Among The Immortals (2016). Zudem integriert Ashleys Stück – wie schon u.a. Schnebels Glossolalie 61 und Liebe-Leid, Cages Concert for Piano and Voices – die pianistischen Qualitäten der Maulwerker (Ariane Jeßulat und Henrik Kairies).

Im Rahmen der Reihe Kontraklang im Heimathafen Berlin-Neukölln realisierten die Maulwerker 2016 gemeinsam mit Gerhard Rühm das Programm Auditive Poesie. Neben Rühms Sprachkompositionen primär aus den 1960er Jahren, sowie der Wiederaufführung von Sven-Åke Johanssons Stereo für 8, kamen Christian Kestens auf einem Theatertext Rühms basierende Kurzoper die schwester, Steffi Weismanns performative Raumkomposition folie und Antje Vowinckels Sprache in Gesang übersetzende Komposition the humming backstage zur Uraufführung. Der Abend wurde vom Deutschlandradio mitgeschnitten und gesendet.

Dem Thema Musik und Sprache widmete sich das Ensemble ebenfalls mit dem Musiktheater durst&frucht von Annette Schmucki (Musikfestival Bern und Gare du Nord Basel, 2017, Luzern 2018).

Dem Feld „Musik und Körper“ als performativer und visueller Musik, meist im Zusammenspiel von Stimme und Aktion, widmeten sich die Abende „Die Musik der Gesten“ im Rahmen einer Konferenz an der Humboldt-Universität Berlin 2016 wie auch die beiden Abende „Música Visible“ in Bolivien. Ebenso unter diesem Thema stand der Abend Augenlieder. Körperkompositionen im Ballhaus Ost Berlin 2017, der Uraufführungen von Fernanda Farah, Neele-Neo Hülcker, Christian Kesten und Andrea Neumann, sowie Wiederaufführungen von Dieter Schnebel und Steffi Weismann konzeptuell miteinander verbindet: während die Kompositionen von Neumann, Kesten und Schnebel Gesten als kompositorisches Material mit Stimmklängen kontrapunktieren, arbeiten die performativen Kompositionen von Farah, Hülcker und Weismann mit außermusikalischen Metaebenen. Der Abend realisierte sich als sechssätzige kollektiv komponierte Komposition.

Nachsätze

Nach einer Zusammenarbeit und Freundschaft über fast drei Jahrzehnte, brach der plötzliche Tod Michael Hirschs im Februar 2017 jäh über das Ensemble herein. Seine abendfüllende musiktheatrale Komposition Sisyphos (Der Schlaf II) für die Maulwerker und Achtkanal-Zuspielung wird nun unvollendet bleiben. Das Gedenkkonzert in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin im Juli 2017, zu dem die Maulwerker Hirschs Kopfecke, Wunderhöhle (1996) und Zu 14 Händen (1995) beitrugen, zeigte die Aktualität seines vielseitigen Werkes. Zum Nachruf

Zur Geschichte und langjährigen Existenz der Maulwerker gehört auch die organisatorische und unterstützende Arbeit im Hintergrund. Für Administration und Produktionsleitungen waren Susanne Elgeti (1996-2001), Björn Kühnicke (2002), Sabine Spillecke (2003-2006) und Julia Gerlach (2007-2010) zuständig; seit 2010 trägt diese Verantwortung Vilém Wagner. Die Arbeit der Maulwerker wurde 2011, 2013 und wird kontinuierlich seit 2016 durch die Berliner Senatsverwaltung unterstützt.

Fountain 2017 v.l. Neo Hülcker, Fernanda Farah, Derek Shirley, Ariane, Jessulat, Henrik Kairies, Katarina Rasinski, Tilmann Walzer, Christian Kesten, Andrea Neumann, Vilém Wagner, Steffi Weismann